Vom 8. bis zum 23.05.24 war ich in Armenien. Es war meine zweite Reise in dieses Land. Das erste Mal konnte ich im April 2022 Michaela Kuhlmann für eine Woche dorthin begleiten. Ich wollte gerne nach Armenien zurückkehren, um die Menschen, das Land und die Sprache noch näher kennenzulernen sowie tiefere Einblicke in die Situation vor Ort und in die Arbeit des DCF zu erhalten. Im Zentrum von Jerewan fand ich ein kleines Hotel mit einem abgeschirmten Innenhof, in das ich mich immer wieder von dem pulsierenden Leben dieser Großstadt zurückziehen und die vielfältigen Eindrücke, die ich täglich gesammelt habe, auf mich wirken lassen konnte. Als Bewohnerin einer 4000 Einwohner zählenden Gemeinde empfand ich mein Unterwegssein in Jerewan als ein echtes Abenteuer. Es gab viel zu entdecken und zu beobachten.
Allein schon der Einkauf im Supermarkt brachte mich ins Staunen und zeigte mir, wie verschieden Alltagssituationen in unterschiedlichen Ländern aussehen können. Hierbei haben mich folgende Dinge besonders beeindruckt: die vielen fleißigen Mitarbeiter und der herausragende Service sowie die zahlreichen Leckereien, die einen besonderen Anblick boten. Die Angestellten waren scheinbar pausenlos damit beschäftigt, Regale aufzufüllen, Produkte zurechtzurücken, Flaschen abzustauben, Einkaufswägen an ihren Platz zu schieben und in dem ein oder anderen Supermarkt sogar die Einkäufe der Kunden in Tüten zu packen.
Ein solch emsiges Treiben habe ich bisher in keinem deutschen Lebensmittelmarkt erlebt, und mir wurde bewusst, dass es in Punkto Service in Deutschland noch deutlich Luft nach oben gibt. Beim Anblick der vollen und reichhaltig gefüllten Supermarktregale kam in mir die Frage auf, wie es möglich ist, dass es hier Menschen gibt, die sich nicht wenigstens regelmäßig die günstigsten Grundnahrungsmittel leisten können.
Wenn man jedoch die Preise betrachtet und diesen das Einkommen der Menschen gegenüberstellt, die beispielsweise auf staatliche Hilfe oder Gelegenheitsarbeiten angewiesen sind, bzw. von umgerechnet ca. 70 oder 80 Euro Rente im Monat leben müssen, dann wird klar, dass die augenscheinliche Fülle an Lebensmitteln nicht allen Menschen zugänglich ist.
Und so war es mir ein Anliegen, eben auch dieser Armut zu begegnen und mich nicht von dem scheinbar sorglosen Leben im Zentrum Jerewans blenden zu lassen. Bei der Planung meines Aufenthaltes, gemeinsam mit Anna Jambazian in der Zentrale des Diaconia Charitable Fund (DCF) im „Dorf der Hoffnung“, habe ich ihr von diesem Wunsch erzählt. Situationsbedingt ist es ihr nicht schwergefallen, mir Einblick in die Lebensumstände von Menschen zu ermöglichen, die in ihrem Alltag erheblichen Mangel leiden.
Mein erster Besuch dieser Art fand bei der Familie des Patenkindes meines Bruders und seiner Familie statt. Anghela wohnt gemeinsam mit ihren Eltern, ihrem älteren Bruder und ihrer kleinen Schwester außerhalb Jerewans in der Nähe einer riesigen Mülldeponie. Sie leben in einem angemieteten, umgebauten Bauwagen ohne sanitäre Einrichtung, ohne ausreichende Fenster, Wärmeisolierung oder sonstige Dinge, die in Deutschland auch bei sozial schwachen Familien Standard wären. Das Zuhause befindet sich zudem in einem sehr desolaten Zustand. Beide Eltern leiden unter erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen und können nicht auf die Unterstützung ihrer Familien zurückgreifen. Im Winter verbrennt die Familie oft Müll, um die Unterkunft zu heizen, da Holz zu teuer ist. Es mangelt an sehr vielem.
All diesen Umständen zum Trotz sind die Kinder sehr fröhlich, aufgeschlossen und quirlig, machen absolut keinen verwahrlosten Eindruck, und es ist ersichtlich, dass sich ihre Mutter im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit Liebe und Hingabe um die Familie kümmert und ihre Kinder fördert. Bei diesem Besuch hat sich gezeigt, dass es Lebensumstände gibt, die jeglichem guten Willen trotzen können, durch persönlichen Einsatz die eigene Lebenssituation zu verändern. Und genau an diesem Punkt wird Hilfe von außen essenziell und viel zu oft zur einzigen Chance, intensive Armut sowohl kurz- als auch langfristig abzuschwächen und im besten Fall zu beheben.
Im Rahmen der Arbeit des DCF konnte ich noch sieben weitere Familien besuchen, darunter auch zwei geflüchtete Familien aus Arzach, die sich in ähnlich schwierigen Lebensumständen befinden. Dazu gehört auch Mari, unser eigenes Patenkind. Durch den starken Anstieg der Mietpreise in Jerewan konnte sich ihre Familie die bisherige Wohnung nicht mehr leisten, weshalb sie nun vorerst gemeinsam mit ihren Eltern und den beiden Geschwistern bei der Urgroßmutter untergekommen ist. Auch dieses Zuhause ist von Armut und Enge geprägt und es war ersichtlich, dass die Unterstützung im Rahmen der Patenschaft einen wertvollen Beitrag für die Versorgung der Familie leistet.
Nachdem ich Mari bereits vor zwei Jahren bei einer Veranstaltung in der Zentrale des DCF kurz kennenlernen konnte, habe ich mich sehr gefreut, dieses Mal noch etwas mehr Zeit mit ihr und ihrer Familie verbringen zu können. Dank der Begleitung und Übersetzung von Armine Harutyunyan, Leiterin der deutschen Abteilung des DCF, habe ich ein wenig mehr Einblick in das Leben von Mari und ihrer Familie erhalten. Mari erzählte mir von der Schule, ihren Vorlieben und Herausforderungen, ihren Hobbies, Wünschen und Träumen.
Die so entstandene Nähe war sehr schön und der Besuch eine große Bereicherung. Er hat von der gewissen Anonymität, die einer Patenschaft durch die räumliche Distanz oft anhaftet, zu einer tieferen persönlichen Ebene verholfen. Ich freue mich, dass wir in Maris Leben investieren und somit dazu beitragen dürfen, dass sie für sich einen guten Weg im Leben findet.
Besonders eindrücklich an den Besuchen der Familien, die in das Nothilfeprogramm des DCF aufgenommen werden sollen, war für mich, die Hoffnung in den Augen der Menschen zu sehen, die die Aussicht auf Hilfe in ihnen geweckt hat. Alle leben in sehr prekären Lebensumständen, in z.T. stark schimmelbelasteten oder extrem beengten Unterkünften, in denen oft nur das Allernötigste vorhanden ist. Sie sind entweder durch Krankheit, Vertreibung oder Tod des Ehepartners bzw. fehlende Arbeitsmöglichkeiten nicht in der Lage, aus eigener Kraft Abhilfe zu schaffen. Ich hoffe, dass alle diese Familien bald die nötige Hilfe erhalten werden.
Im Verlauf meines Aufenthaltes bekam ich auch noch Einblick in weitere Arbeitsbereiche des DCF, wie z.B. in das Nähatelier „Naze“ und das Berufsausbildungszentrum (BAZ), wo ich an der Abschlussfeier der Bäcker- und Konditorenausbildung, sowie der Schneiderausbildung teilnehmen konnte. Ich habe viele wunderbare Menschen kennengelernt, wozu auch besonders die Mitarbeiter des DCF zählen, und ich freue mich schon sehr auf ein Wiedersehen.
An dieser Stelle ein ganz herzliches Dankeschön für diese besondere Zeit und ein ebenso herzliches Dankeschön an alle, die diese wertvolle Arbeit leisten oder durch ihre Unterstützung ermöglichen!
Katja Ebinger