Von Friederike Müller und Familie
In den Ostertagen des zweiten Corona-Frühlings beschlossen wir am Küchentisch, dass wir das nächste Osterfest in Armenien feiern würden. Zeitgleich waren wir zufällig auf AMRO e.V. gestoßen und hatten uns für drei Patenkinder entschieden. Aber Armenien hatte Dank inniger Freundschaften schon vorher einen Platz gefunden in unserem Leben, das durch den Krieg im Herbst 2020 und besonders durch die persönliche Tragödie unserer Freunde tief erschüttert worden war.
Während all dies unseren Wunsch, endlich Armenien zu besuchen, noch verstärkt hat, waren unsere 10-jährige Alma und ihr 7-jähriger Bruder Gabriel bis zuletzt eher skeptisch bis misstrauisch gegenüber einem so originellen Reiseziel…
Die Bedenken unserer Kinder waren wie weggeblasen, als wir nur wenige Stunden nach unserer Ankunft in Jerewan über sonnengetränkte Plätze voller Menschen spazierten – und dabei den ersten herrenlosen Hunden begegneten. Alma schloss diese Tiere sofort in ihr Herz und oft auch in ihre Arme – und versorgte sie in den Bergen von Dilijan mit den Resten unseres Restaurantbesuchs und beim Kloster Haghartsin mit frisch gekauftem armenischem Gebäck.
Dass diese Reise den Blick unserer Kinder auf das Leben verändert hat, ist natürlich vor allem den Menschen zu verdanken, die ihre Häuser und Herzen für uns geöffnet haben. Schon in Berlin hatten Alma und Gabriel die Sorge und Trauer unserer Freunde im Herbst 2020 mitbekommen, und sie wussten, dass auch die Väter unserer Jerewaner Patenkinder im Krieg verletzt worden oder gefallen waren. Nun saßen unsere Kinder am Grab eines nicht einmal 19-Jährigen, wenige Zentimeter vor dem Helm, auf dem sein Name notiert war.
Einige Tage zuvor waren wir von Anna und Armine im „Dorf der Hoffnung“ begrüßt worden, um im Büro des Diaconia Charitable Fund unsere beiden Jerewaner Patenkinder und ihre Mütter zu treffen. Unsere anfangs mit der Situation überforderten Kinder konnten Annas und Armines direkter und liebevoller Art nicht lange widerstehen, sodass die eine Stunde, in der sie mit unserem knapp 3-jährigen Patenmädchen und unserem 9-jährigen Patenjungen (mit ihm durften wir später noch einen Samstagnachmittag verbringen) spielen konnten, viel zu schnell vorbei war.
Später besuchten wir mit Anna und Armine unser 7-jähriges Patenmädchen bei sich zuhause in einer ländlichen Gegend nahe der Grenze zu Aserbaidschan. Wie wir von den Großeltern, Eltern und den beiden Geschwistern voller Herzenswärme und mit gedecktem Tisch empfangen wurden, wird ganz sicher stärkere Spuren bei unseren Kindern hinterlassen als die für sie unbekannten, befremdlich harten Lebensumstände.
Alma und Gabriel lauschten aufmerksam, wie die Erwachsenen von der Zeit erzählten, in der sie als Kriegsflüchtlinge im Keller eines zerstörten Hauses lebten. Als wir mit der Familie durch das in den Jahren danach entstandene Haus gingen, fragte Alma im Keller selbst, ob dies die Räume seien, in denen die Familie damals gelebt habe… Ein Stückchen Alltag konnten wir auch ohne gemeinsame Sprache erleben, als uns unser Patenmädchen ihre Schulbücher und Hefte zeigte. Unbeschreiblich war es, wie die 7-Jährige nach dem Öffnen ihres Geschenks, einer Armbanduhr, aufstand, um die neben ihr sitzende Alma ganz ohne Worte in ihre Arme zu schließen.
Für diese unbezahlbaren Begegnungen (und noch viel mehr) sind wir den Mitarbeiterinnen von Diaconia dankbar, die jeden von uns wunderbar herzlich empfangen und begleitet haben: jeden von uns, auch Ruben, der in Jerewan drei Jahre alt geworden ist, und an seinem Geburtstag von Kindern im „Dorf der Hoffnung“ singend und tanzend begrüßt und mit einer so fröhlichen wie bewegenden Überraschungsparty gefeiert wurde. Wäre es nicht längst um uns geschehen gewesen, hätte zweifellos dieses Geschenk dazu geführt, dass sich keiner von uns vorstellen wollte, nur zwei Tage später all diese Menschen und Erlebnisse einfach so zurücklassen zu müssen…
Nach zwei Wochen voller Begegnungen, bei denen selbst unsere Kinder sehen und fühlen konnten, wie untrennbar Schmerz und Glück, Sorge und Hoffnung, Trauer und Lebensfreude im Leben der ihnen lieb gewordenen Menschen verwurzelt sind, fragte sich Alma am Berliner Küchentisch: „Wie kann ein Land so eine Wirkung auf mich haben?“
Es bleibt uns das Heimweh nach Armenien, einem Land, in dem uns vieles neu, aber doch auf Anhieb wohlig vertraut gewesen ist. Jede unserer Umarmungen fühlte sich weniger wie ein Abschied als wie das Versprechen an, bald wiederzukommen – denn nicht nur für unsere Kinder ist die große weite Welt ein Stück kleiner geworden.