Einst war Armenien der Musterschüler im sowjetischen Sozialismus. Seit der Russlandkrise, die der Finanzkrise gefolgt ist, geht es der Bevölkerung viel schlechter als vor der Wende von 1989. Baru Jambazian, Leiter des Diaconia Charitable Fund, gibt Einblick in ein vergessenes Land, in dem das Bildungsniveau hoch und die Zukunftsaussichten ungewiss sind. Für Hoffnungsschimmer sorgen ausgerechnet die Kriege im Nahen Osten.
Baru Jambazian, wie sieht die Lage in Armenien aus?
Wer kann, verlässt das Land. Beim Zusammenbruch der Sowjetunion hatte das Land eine Bevölkerung von 3,5 Millionen, heute sind es nur noch 2 Millionen. Offiziell lag die Arbeitslosigkeit 2013 bei 16 Prozent, tatsächlich dürfte sie 60 bis 70 Prozent betragen. Viele Leute halten sich über Wasser, indem sie zwei oder drei Jobs haben oder als Tagelöhner arbeiten. Wir sind steinreich – im wörtlichen Sinn: Außer in der Araratebene ist der Boden nirgends fruchtbar, so dass die Landwirtschaft sich nicht zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig entwickeln kann. Der Abbau der Bodenschätze (Uran sowie Molybdän, das als Stahlzusatz eine Rolle spielt) trägt kaum zur Entwicklung des Landes bei.
Zu Sowjetzeiten war Armenien bekannt für seine Industrie. Ist dieses Know-how in nur einer Generation verloren gegangen?
Das Know-how ist noch da. Wer mit Vertretern der älteren Generation spricht, staunt über das Spezialwissen und den damit verbundenen Stolz, den diese Leute an den Tag legen. Doch die Industrie ist nicht mehr da. Praktisch die gesamte Infrastruktur wurde beim grossen Erdbeben 1988 zerstört. Dass sie nicht wieder aufgebaut wurde, hat neben der Grenzblockade mit der Verflechtung der Länder innerhalb der Sowjetunion zu tun. Kein Land konnte, sprich: durfte ein Produkt allein herstellen. Das waren für die Sowjetrepubliken schlechte Voraussetzungen für eine profitable Industrieproduktion nach der Unabhängigkeit.
Wie sieht es bei der Bildung aus?
Die Bevölkerung hat durchwegs einen hohen Bildungsstandard. Seit vielen Jahren liegt die Alphabetisierungsrate bei nahezu 100 Prozent. Dabei wird das Schulwesen ständig reformiert. Derzeit liegt die Schulpflicht bei zwölf Jahren. Neben Armenisch lernen alle Kinder Russisch und Englisch. Viele lernen zusätzlich noch Spanisch oder Französisch. In Jerewan haben wir diverse höhere Bildungsanstalten, Universitäten und Fachhochschulen, die einen guten Ruf genießen. Die meisten Familien unternehmen jede Anstrengung, damit ihre Kinder studieren können. Doch Arbeitsplätze für Akademiker sind rar. Wer überhaupt eine Stelle findet, schätzt sich glücklich, und sei es als Hauswart oder Parkwächter.
Kapital, zum Beispiel für Start-ups, lässt sich auf dem Weltmarkt beschaffen.
Armenien leidet unter der Blockade der Türkei und Aserbeidschan, die im Zuge des Kriegs um die Unabhängigkeit Karabachs entstanden ist. Die Abschaltung des einzigen Kernkraftwerks infolge des Erdbebens führte zudem zu einer Energiekrise. Güter können somit nur über Georgien und Iran eingeführt werden, ein Umstand, aus dem diese Länder Kapital schlagen. Diese Situation macht Armenien für Investoren wenig attraktiv und verteuert Importgüter durch hohe Zölle. Dazu ein Beispiel: Mehr als 60 Prozent der Kosten für einen Container fallen außerhalb der armenischen Grenze an, unabhängig davon, ob die Güter ursprünglich aus Europa, den USA oder einem Nachbarstaat stammen.
Die meisten Armenier leben außerhalb des Landes. Wie stehen sie zu ihrer Heimat?
Es gibt weltweit zwischen elf und zwölf Millionen Armenier. Fünf von sechs leben außerhalb von Armenien. Die größten Diasporagemeinden bestehen in den USA, Frankreich und Russland. Ohne ihre finanzielle Unterstützung würde die Bevölkerung verhungern. Aus diesem Grund wurde das Land von der Finanzkrise empfindlich getroffen. Wirklich dramatisch wurde die Situation durch die Rubelentwertung und die Krise in Russland, denn viele armenische Männer haben in Russland gearbeitet. Entweder sie wurden arbeitslos oder sie brauchen nun ihren Lohn, um ihre gestiegenen Lebenshaltungskosten zu bezahlen, so dass sie kaum mehr Geld schicken können. Vor 2008 flossen jährlich vier Mia. US $ Unterstützung ins Land. 2014 ist der Geldtransfer auf 1,72 Mia. US $ eingebrochen.
Zumindest das Gewerbe dürfte vom Ende des Kommunismus profitiert haben.
In diesem Bereich lässt sich ein Konzentrationsprozess zur Schaffung größerer Unternehmen beobachten. Das ist einerseits normal, bringt aber andererseits durch die schwierigen Umstände unzählige Familien in Not, die vor wenigen Jahren noch ein Auskommen hatten. So sind in den letzten Jahren Supermarktketten nach dem Vorbild von Aldi und Lidl entstanden. Sie gehören der Elite, die im Parlament das Sagen hat. Die Supermärkte verdrängen die Quartierläden, von denen zuvor jeweils zwei bis fünf Familien lebten. Allgemein ist die Vermischung von Politik und Wirtschaft ein grosses Problem in Armenien.
Länder wie Russland und die Türkei kämpfen mit ungelösten Minderheitenfragen, die Ukraine ist daran zerbrochen. Wie sieht das in Armenien aus?
In Armenien gab und gibt es keine nennenswerten Minderheiten, weder von der Staatsbürgerschaft noch von der Religionszugehörigkeit betrachtet. Über 96 Prozent der Bevölkerung sind Armenier und damit Christen. Es gibt jesidische Familien, die vor langer Zeit eingewandert sind, doch sie haben längst die Staatsbürgerschaft und armenische Namen angenommen. Selbst Roma, die bekanntlich in vielen Ländern ausgegrenzt werden, gibt es nicht in Armenien.
Wie wirkt sich der Zerfall der Staaten im Nahen Osten auf Armenien aus?
Nach dem Völkermord haben diverse arabische Staaten die armenischen Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen. In Syrien und Irak sind Armenier unter Assad und Saddam Hussein in Schlüsselpositionen aufgestiegen. Im Bürgerkrieg in Syrien werden Armenier als Christen jetzt vielerorts gezielt verfolgt, so dass sie zur Flucht gezwungen sind. Für viele ist Armenien die erste Anlaufstelle, schließlich sind sie dort sicher.
Aber das Land kann diesen Leuten keine Perspektiven bieten.
Viele von ihnen haben sich als tüchtige Handwerker und Händler einen Namen gemacht. Sie würden gern bleiben, doch weil sie in Armenien keine Perspektive sehen, reisen sie weiter, vor allem in die USA und nach Kanada, aber auch nach Südamerika. Obwohl der Flüchtlingsstrom Armenien im schwierigsten Moment seit der Wende trifft, tun diese Leute der Gesellschaft gut.
Inwiefern?
Auch wenn sich Armenien in der Sowjetunion durch Tüchtigkeit auszeichnete, die Mentalität ist vom Sozialismus geprägt. Die Heimkehrer aus dem Nahen Osten bringen einen Drive in die Gesellschaft, der in naher Zukunft in einen Aufbruch münden könnte, wirtschaftlich, aber auch politisch. Im Stadtbild von Jerewan hat sich bereits einiges verändert. Vor zehn Jahren sah man zum Beispiel kaum Leute in Jeans, heute laufen junge Leute ganz selbstverständlich in Jeans herum.
Zum Stichwort „Völkermord“. Dieser jährt sich heuer zum 100. Mal. Welche Rolle spielt die Erinnerung?
In jeder Familie hat die Erinnerung Gesichter. Alle Armenier sind mit den Geschichten ihrer Großeltern und Urgroßeltern aufgewachsen. Der Wunsch nach Gerechtigkeit, nach einem Eingeständnis der Schuld von türkischer Seite, ist ungebrochen. Am Gedenktag, am 24. April, legen die Leute jedes Jahr Blumen am Mahnmal in Jerewan nieder. Dieses Jahr hielt der Strom fünf Tage an, sogar morgens um 3 Uhr musste man Schlange stehen.
Mit dem wirtschaftlichen Niedergang gewinnen NGO’s (Nichtregierungsorganisationen) an Bedeutung. Sie leiten seit 1999 die Arbeit des Diaconia Charitable Fund. Wie sieht die Hilfe konkret aus?
Wir haben vier Standbeine: Das „Dorf der Hoffnung“ in der Hauptstadt, rund 4000 Kinderpatenschaften, landwirtschaftliche Hilfe und Berufsausbildung. Die Kinderpatenschaften retten Leben, da wir kranken Kindern damit Operationen ermöglichen, wobei diese im Land gemacht werden. Eigentlich wäre das Gesundheitswesen Sache des Staates und seit einigen Jahren gibt es eine Krankenversicherung, doch diese ist teuer. Im Spital muss jede Spritze, jede Handreichung extra bezahlt werden. Schließlich müssen der Arzt, die Krankenschwester und die Putzfrau auch leben. Unser größtes Projekt ist das „Dorf der Hoffnung“ in Jerewan. Dabei handelt es sich um ein Housing-Projekt für mittellose Familien mit einer Planung von 200 Häusern, wovon seit dem Projektbeginn 2001 78 gebaut wurden. Auf dem Land machen wir gute Erfahrungen mit dem landwirtschaftlichen Starterpaket von zwei Kühen, zehn Hühnern und je drei Schafen und Schweinen. Dabei wird die Erstgeburt der Säugetiere zugunsten einer anderen Familie zurückgezahlt. In acht Jahren hatten wir nur in drei Fällen Schwierigkeiten und zwar, weil Tiere eingegangen sind, nicht, weil die Familien die Abgabe verweigerten. Zudem spielt das Berufsausbildungszentrum BAZ eine wichtige Rolle: Mittellose junge Menschen – derzeit sind es 114 – werden dort in folgenden Berufen ausgebildet: Näherin, Schneiderin, Elektriker, Handarbeit, Hausbau, Bäcker und Konditor. Dazu gibt es Englisch- und Russischkurse sowie Computerkurse.
Wie sehen Sie die Zukunft in Armenien?
Ich bin zuversichtlich. Die Solidarität der Menschen ist hoch, auch wenn die Not der letzten Jahre da und dort den Egoismus fördert. Die Kriminalitätsrate ist niedrig, in der Millionenstadt Jerewan kann jeder und jede Tag und Nacht allein durch die Straßen gehen. Ich hoffe, dass meine Kinder in Armenien bleiben und hier eine Existenz aufbauen können.
Fragen: Daniela Deck, November 2015
Zur Person:
Baru Jambazian, Jahrgang 1971, ist in Wetzlar in Deutschland aufgewachsen. Seit 1999 lebt er mit seiner Frau und den zwei Kindern in der armenischen Hauptstadt Jerewan. Dort leitet er den Diaconia Charitable Fund. Gegründet hat diese Arbeit unter dem Namen „Armenian Help Center“ sein Vater, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989.